Gerhard Bohner

Als Gerhard Bohner Anfang der 1980er-Jahre zum Festival der Akademie der Künste mit einer Auftragsproduktion eingeladen wurde, aber keine Tänzer hatte, entstand ein „Ballett ohne Tänzer“, ein Stück mit zehn beweglichen Objekten, in deren Mitte der Choreograf die Bewegungen zeigte. Das ist der Ausgangspunkt für Schwarz Weiss Zeigen. Der Choreograf führt darin die Bewegungen selbst aus. Es sind „Übungen für den Choreografen“, der in Personalunion mit dem Tänzer den Konflikt von Vorstellung und körperlichen Möglichkeiten selbst austrägt. Als Tänzer deutet Gerhard Bohner den Sprung nur an, als Choreograf zeigt er den Bewegungskreis nur mit dem Finger. Zwischen vorgestellter, angedeuteter Form und tatsächlicher Ausführung entwirft der Tänzerchoreograf ein Spektrum der Möglichkeiten von Realität und Imagination. In dieser Spannung von realer Grenze und idealer Unendlichkeit geht Bohner mit seinen konkreten Möglichkeiten um, thematisiert und überwindet sie. Mit der höchsten Konzentration rückt er die auf ein Minimum reduzierte Geste in den Bereich geistiger Vorstellungskraft, verleiht ihr eine künstlerische Qualität, ohne dem Anspruch des Bewegungsextrems, der Virtuosität, Folge zu leisten. Gleichzeitig öffnet der Künstler damit einen neuen Raum. Zur Anschauung kommen die Gesetze emotionaler und dramatischer Wirkungen von Körper, Bewegung und Raum.

Die Bühnensituation ist auf wenige Elemente beschränkt. Im spitzen Winkel laufen eine schwarze und eine weiße Wand aufeinander zu. Sie entmaterialisieren den Bühnenraum, scheinen aber auch zugleich das Dreieck des Bühnenbodens zu verräumlichen. Die Gesetze der Fläche, wie sie Kandinsky für die Malerei formuliert hat, sind gleichsam in den Raum projiziert. Der Punkt ist der Tänzer im Stillstand. Die Linie ist seine Bewegung, die zweidimensionale Vorstellung von tänzerischen Bewegungsfolgen auf dem Bühnenboden ist in die Dimension des menschlichen Körpers gewendet. Gerhard Bohner betritt den geometrischen Raum. Schwarze Hose und weißes Hemd verweisen auf die Einbindung des Tänzers in die abstrakte Ordnung. Die weiße Wandfläche berührend, verharrt der Tänzer in der zeitlich knappsten Form. […] Er ist in sich gekehrt. Er ist das Urelement des Tanzes, wie der Punkt das Urelement der Malerei. Die Energie des verweilenden Tänzers ist konzentrisch. Seine äußere Form materialisiert sich aus der in ihm lebenden Spannung. Mit der ersten Bewegung gewinnt die innere Spannung an Dynamik nach außen und durcheilt den Raum als Linie. Doch der Moment der konzentrischen Ruhe bleibt latent, als Möglichkeit, erhalten. Im Gespräch wählt Gerhard Bohner zur Deutung dieser Qualität das Beispiel einer Pyramide. Wie auf den Seitenflächen zur Pyramidenspitze hin die Abstände zwischen den Polen der Grundlinie immer kürzer werden, so werden die Bewegungen zwischen ihnen immer interessanter. Die Bewegungen sind ausgerichtet auf die Spitze, den Ort der Nichtbewegung, in dem die Pole zusammenfallen. Dieser Moment ist zugleich auch der der höchsten Bewegtheit.
[…]

Schwarz Weiss Zeigen nimmt seinen Ausgangspunkt in der möglichsten Reduzierung von Sprache. In einem fast „schweigenden Ambiente“ erschließt der Choreograf die Strukturen von lyrischer und dramatischer, von warmer und kalter Bewegung. Weiße und schwarze Flächen sind die Grenzen für den Tänzer und seine Objekte. Je weiter sich der Tänzer dem Zentrum annähert, umso geringer ist die Spannung seiner Bewegung. Je weiter er auf die Grenzen zuschreitet, umso höher die Dramatik der Bühne. Erst mit der Berührung der Grenze löst sich die Dramatik wieder auf. Ebenso verfährt der Tänzer mit Objekten. Schwarze Treppe und Gliedermensch nehmen in ihrer dramatischen Kraft zu, je weiter sie vom Zentrum entfernt werden. Zugleich bringt der Tänzerchoreograf mit der Gliederpuppe den abstrakten Raum aus der Balance. Am Beispiel der vollkommenen Kunstfigur objektiviert er die Möglichkeiten organischer Bewegung des Menschen an der Mechanik künstlerischer Gelenke. Der Choreograf führt mit den Bewegungen seiner Kunstfigur die eigenen Vorstellungen ad absurdum. Der menschliche Körper scheint sich den Gesetzmäßigkeiten von Geometrie und Mechanik, von Abstraktion und Analyse zu widersetzen. Indirekt verweist der unbeschränkte Bewegungsradius des Gliedermenschen darauf. Der Tänzermensch hingegen erzählt mit seinen Bewegungen eine persönliche Geschichte. Hier erschließt sich das Thema zwischen Tänzer und Choreograf, zwischen Material und Vorstellung, zwischen Subjekt und Objektivierung als Schlüsselmotiv des Tanzes überhaupt. In der Personalunion von Tänzer und Choreograf verdichtet Gerhard Bohner diesen Bezug in dem dialektischen Verhältnis von Mensch und Puppe. Was Walter Benjamin am Beispiel der Hure beschreibt – das Zusammenfallen von Verkäuferin und Ware in einer Person –, das reflektiert Gerhard Bohner für den Tanz. Der Tänzer ist Objekt, Material, und Subjekt, Persona. Die konkreten und individuellen Bedingungen des Körpers reiben sich am Ideal von Mechanik und Abstraktion.

Aus: Johannes Odenthal, Pose und Bewegung im Raum, in: Ders. (Hg.), Tanz Körper Politik. Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte (Recherchen 27), Berlin 2012, S. 34ff.

 

In der Ausstellung:

Gerhard Bohner
Schwarz Weiß Zeigen – Übungen für einen Choreografen
Choreografie und Tanz: Gerhard Bohner
Musik: Georg Friedrich Händel, Glen Branca
Raum: Axel Manthey
Auftragsproduktion der Akademie der Künste, 1983
Nachlass Gerhard Bohner, Akademie der Künste
Aufzeichnung München, 1990 Kamera und Schnitt: Jean-Louis Sonzogni + Florian Zimmermann Produktion JOINT ADVENTURES - Walter Heun