Joseph Marioni

Farbe als Präsenz. Farbe als Bild. Ein Objekt mit einer Logik, welche die Deckungsgleichheit von Farbe und Leinwand herstellt. Die Leinwand selbst ist die Gestalt; sie ist vertikal. Die Farbe darf nicht zu einer Verlängerung der Wand werden, sondern muss eine Präsenz an der Wand sein – die Kanten der sehr dünnen Keilrahmen stehen nicht senkrecht zur Wand, sondern sind auch nach hinten abgerundet, so dass die Leinwand aus der Wand herausgedrückt wird und ihre Unabhängigkeit von dieser durchbrochen wird. 

Jede Farbe erfordert ihre eigene Größenordnung und Form. Farbe und Fläche müssen abgestimmt sein. Düstere Farben neigen dazu, sich auszubreiten und Dinge zu umhüllen. Ihnen wird in der Regel ein Rechteck von menschlicher Größe zugeordnet. Die Pracht hellerer Farbtöne wird von kleineren Rechtecken leichter eingegrenzt.

Die Farbe wird auf die Leinwand aufgetragen, nachdem sie gedehnt und aufgehängt wurde. Sie fließt von oben nach unten und macht ihre flüssige Beschaffenheit und das Gebot der Schwerkraft sichtbar, während sie zu einer einheitlichen Haut gerinnt. Der Fluss wird durch eine Farbwalze an einer Stange gesteuert, die zu einer Verlängerung des Künstlerkörpers wird und eine direkte Übertragung des Mediums von einer Gestalt auf die andere ermöglicht. Die persönlicheren Spuren eines handgeführten Pinsels würden Informationen liefern, die das Empfinden der Farbebene durchbrechen würden. Es werden gerade genug Schichten in Fließreihen aufgetragen (in der Regel drei oder vier), um die Farbe vollständig herauszubilden. Weder die Oberfläche noch das Verfahren dürfen die Aufmerksamkeit übermäßig auf sich ziehen. Alles ist ausgewogen. Strenge, Zurückhaltung und Klarheit kennzeichnen Marionis Arbeit.

Dieselben klaren Mittel, die eine Objektivierung des Farbempfindens erzeugen, verschwören sich aber auch, um diese Objektivierung mit einer Illusion zu untergraben. Die abgerundeten Kanten des Keilrahmens und die Ausbreitung der Farbtöne an der Unterkante der Leinwand animieren das Bild vom Boden aufwärts und aus der Wand heraus und lassen es so mehr schweben als hängen. Die einzelnen Farbschichten sind so dünn, dass sie eine gewisse Transparenz bewahren und die Körperlichkeit der Leinwand in eine flächige Lichtmembran verwandeln.

Das Objekt wird zu Malerei. Die Empfindung wird zur Erfahrung – geordnet und ritualisiert. Farbe wird zu Bewusstsein. Hinaussehen wird Hineinsehen.

Klaus Kertess, Die jüngsten Arbeiten von Joseph Marioni, in: Jörg Dauer et al., Liquid Light. Joseph Marioni. Painter (Ausst.-Kat. Museum Wiesbaden), Wien 2018, S. 151.

 

In der Ausstellung:

Joseph Marioni
White Painting No. 2, 2005
Acryl auf Leinwand
210 × 210 cm
Kunstmuseum Wolfsburg

 

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