Bridget Riley

© Bridget Riley // Foto: privat

„Weiße Scheiben“? Der Titel verwundert, denn das Bild zeigt schwarze Scheiben auf weißem Grund. Die runden Formen treten in drei verschiedenen Größen auf: klein, mittelgroß, groß. Ihre unverbundene Anordnung scheint zufällig. Aber es dauert nicht lange, bis dieser objektive Anschein von einer anderen Wahrnehmung überlagert wird: In den offenen Zwischenräumen zwischen den schwarzen Scheiben springen mit einem Mal luminöse Phantome auf, weiße Scheiben, die heller als der Bildgrund sind und umgehend wieder verschwinden, sobald man sie zu fixieren versucht – nur um anderenorts wieder aufzutauchen, Cluster zu bilden oder die schwarzen Positionen teilweise zu überlappen. Obschon flüchtig, hält dieses lebhafte Treiben unablässig an, solange man das Bild im Blick hat.

Natürlich gibt es dafür eine wissenschaftliche Erklärung: Die weißen Scheiben sind optische „Nachbilder“ der schwarzen. Aber einmal ganz abgesehen von der Schwierigkeit, diese physiologische Gesetzmäßigkeit objektiv nachzustellen, ist der Unterschied zwischen der erklärbaren Erscheinung und dem bildnerischen Ereignis ebenso groß wie der zwischen einer Farbe im Spektrum und ihrem Auftreten in einem Gemälde. Damit die weißen Nachbilder deutlich und anhaltend hervortreten können, bedarf es eines kompositorischen Kunstgriffs: Die verschieden großen schwarzen Scheiben sind jeweils in einem linearen vertikalen Raster verankert, das gewissermaßen das stabile Rückgrat bildet, gegen das eine vehemente Diagonalbewegung von links unten nach rechts oben gerichtet ist. Angestoßen durch drei komplette Phasen (klein-mittel-groß-mittel-klein) im linken unteren Bildviertel, gewinnt diese Bewegung gerade dadurch an Dynamik, dass sie nicht formal fortgesetzt wird, sondern das lotrechte Gerüst aufbricht, fragmentiert und teilweise auflöst. In den Leerstellen generiert optische Energie die pulsierenden weißen Nachbilder. Auf diese Weise verwandelt sich das beinahe quadratische Bildgeviert in ein Spannungsfeld, in dem Ordnung und Unordnung einander die Waage halten. 

Statt mit einem fertigen Bild konfrontiert zu werden, sind wir gehalten, quasi als Performer mit eigenen Augen den Sinn des Bildes zu vollstrecken. Bridget Riley erinnert sich: „Einige dachten damals, und manch einer denkt es auch noch heute, dass dies Gemälde waren, die etwas mit optischen Experimenten zu tun haben (und mit dem, was später ‚Op-Art‘ genannt wurde); in Wirklichkeit waren sie der Versuch, etwas über Stabilität und Instabilität zu sagen, über Gewissheiten und Ungewissheiten“ (1988).1

Robert Kudielka

 

1 Bridget Riley, The Experience of Painting [1988], in: Robert Kudielka (Hg.), The Eye’s Mind: Bridget Riley, Collected Writings 1965–1999, 3. Aufl., London 2009, S. 195201, hier S. 200.

 

In der Ausstellung:

Bridget Riley
White Disc 2, 1964
Acryl auf Hartfaser
104 x 99 cm
Kunstmuseum Den Haag, Niederlande

 

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