DIE FARBE WEISS
Zu Strawaldes „Sonnenflecken“
Nothingtoseeness, die Nichts-gesehen-zu-haben-Befindlichkeit im Bunde mit Vokabeln wie Leere / Weiß / Stille beziehungsweise Immaterialität / Nullpunkt / Leere – das grenzt an ein altes philosophisches Problem, das in den letzten hundertfünfzig Jahren bedenklich nach vorn gerückt ist: das Problem des Nichts. John Cage und die Akademie der Künste bleiben kurz davor stehen, mit ihren Haupt- und Schlagwörtern verhalten sie bei den Zwischenräumen der Körperwelt, die bekanntlich den bei weitem größten Teil des Universums einnehmen, jener trostlosen, aber unentbehrlichen Zone, deren Leere sich nur im engeren Umkreis der Erde mit Abfällen, Weltraumschrott zu füllen beginnt. Wenn es kosmonautisch auf den Mars oder den Jupiter zugeht, herrscht unterwegs infolge Immaterialität (Materieabwesenheit) die Temperatur des Nullpunkts (0° Kelvin = -273,15° C), und von einer Stille kann die Rede sein, deren Totalität auch das einsam seine Bahn ziehende Raumschiff nicht durchbricht. Es folgt den Kräften der Gravitation, und auch, wenn es seine Steuerraketen einmal betätigt, ist nichts zu hören: da ist keine Materie, in der sich Schallwellen bilden könnten.
Daß der Raum zwischen den Gestirnen, den leuchtenden und den erloschenen, vollkommen leer sei, konnte sich die Wissenschaft noch Anfang des 20. Jahrhunderts nicht vorstellen; um die Fortpflanzung des Lichts durch die Weiten des Alls zu erklären, nahm man eine weltdurchdringende, unmeßbare leichte Trägersubstanz an und nannte sie Äther, bis man eines Tages begreifen mußte: da ist wirklich nichts als Leere, durch die das Licht zu uns kommt, in einer paradoxen Doppelgestalt, die man Photon nannte, damit das strahlende Unding wenigstens einen Namen habe.
Aber das Nichts ist noch eine andere Kategorie als die Leere! Mit der Leere kann es die Kunst insofern aufnehmen, als diese kein Lichthindernis ist (sonst säßen wir im Finstern, nein, wir säßen, lägen, stünden überhaupt nicht), aber vor dem Nichts steht sie sprach-, nein: bildlos. Die Sprachkunst hat es von Zeit zu Zeit mit ihm aufgenommen, und ein Epochendrama wie Goethes „Faust“ hat es sogar fertiggebracht, dem Nichts eine Stimme zu geben: Mephistopheles ist in der ersten wie der vorletzten Szene des Werks nichts anderes als der Anwalt des Nichts.
Mit dem kann die bildende Kunst überhaupt nichts anfangen. Mit der Leere hat sie gelegentlich geliebäugelt, dann entstanden einfarbige Bilder und galten als der letzte Schrei, der sie tatsächlich waren. Aber es war eine farbige Leere, also keine richtige. Auch mit Stille hat die bildende Kunst nichts zu tun, sie ist ja keine Hörkunst; anders steht es mit „der Farbe Weiß“, hier wacht sie auf, hier fühlt sie sich zuständig. In Goethes Schriften zur Optik finde ich beiläufig die knappste Bestimmung dieser Unfarbe und der ihr entgegengesetzten; er nennt das Schwarze den „Repräsentanten der Finsternis“, das Weiße den „Repräsentanten des Lichts“. Da haben wir die Polarität in faßlichster Gestalt und begreifen sofort, daß sie andere Polaritäten einbezieht: Sein und Nicht-Sein, Tag und Nacht, Leben und Tod; auch erkennen wir, daß die eine Seite dieser Polaritäten nicht ohne die andere auskommt.
Ist es also zulässig, beide Seiten in getrennten Ausstellungen voneinander zu isolieren? Es ist jedenfalls originell und zulässig insofern, als in diesem Fall beide Nicht-Farben als Farben behandelt werden, als Gestaltungsmaterial. Dabei fungiert Weiß nicht als „Repräsentant des Lichts“1, sondern als besonders helle und zugleich unbunte Farbe und Schwarz als das Gegenteil, die gegenständliche Negation des Lichts durch Verweigerung von dessen Aussendung. Daß Weiß eine Illusion ist, so wie der alltägliche Sonnenauf- und Sonnenuntergang, hat Isaac Newton entdeckt, indem er einen punktförmigen Sonnenstrahl in einem verdunkelten Raum auf ein Glasprisma treffen ließ, mit dem Ergebnis, daß sich dessen lichtes Weiß auf dem Projektionsschirm dahinter in eine ganze Palette von Farben auflöste. Die Palette der Schöpfung, könnte man sagen, wenn man hinzufügt, daß es, dies wahrzunehmen, des Menschenauges bedarf, das im Lauf von Jahrmillionen drei Sorten Zäpfchen auf der Netzhaut hervorbrachte, die, indem sie Licht verschiedener Wellenlänge unterscheiden, jene differenten Sinneseindrücke hervorbringen, die wir Farben nennen: „Erst das Auge schafft die Welt“.2
Es ist nicht anders: was wir als Farbe wahrnehmen, gehört nicht der außermenschlichen Welt an, die wir die objektive nennen; Farben entstehen erst, indem wir sie sehen. Goethe gefiel die Aufsplitterung des weißen Lichts in seine Farbanteile überhaupt nicht, er fand das Sonnenlicht in Newtons Versuchsanordnung vergewaltigt und kämpfte als ein Don Quijote des Anti-Newtonismus für das Weiß als ein Urphänomen des Weltwesens. Nachdem klargeworden war, daß, was wir weißes Licht nennen, aus Schwingungen besteht, die, von Rot bis Violett und damit von 384 bis 789 Billionen Schwingungen in der Sekunde reichend, alle drei Zäpfchen gleichermaßen anregen, sprang ihm ein philosophischer Witzbold bei: „Farbenblind ist, wer sich verzählt hat.“
Die bildende Kunst hält es mit Goethe, sie nimmt Weiß als variable, aber integrale Substanz. So steht es auch mit all seinen Facetten im Leben unserer Gesellschaft und vieler anderer. Unsere Zimmerdecken sind weiß, farbige Tapeten sind eine exzentrische Ausnahme; geschnitzte Balken oder Plafondmalereien gibt es weder in öffentlichen Räumen noch in reichen Privathäusern, wo sie einst eine luxuriöse Selbstverständlichkeit waren. Seit wann blicken wir ins Aseptisch-Weiße, Farb- und Formleere, wenn wir in Zimmern oder Sälen in die Höhe blicken? Weiß assoziiert Sauberkeit, weil sich Verstaubung und Verschmutzung darauf am deutlichsten abzeichnen; in Krankenhäusern ist es begreiflicherweise am Platz. Aber Weiß ist auch die Nichtfarbe, lichte Annihilierung des Bunten, ist es ein Ausdruck wohnhaften Nihilismus?
Die schmutzempfindliche Tönung farblos-verabsolutierter Helligkeit – sie gilt uns zugleich als Gewandfarbe des Festlichen; wir ziehen weiße Hemden an, wenn wir auf der Höhe der Anlässe sein wollen, und Bräute gehen immer noch am liebsten in Weiß. Weißlackierte Limousinen und Sportwagen sind die eleganteste Form individueller Fortbewegung, und auch die schnellsten Eisenbahnen folgen dieser Bestimmung, die keine oberflächlich-gesellschaftliche ist; sie beruht, wie auch jede andere Farbwirkung, auf psychologischer Tiefengründung.
Aber es gibt auch den Weißclown mit dem autoritären Gehabe und dem weißgeschminkten Gesicht, und es gibt ihn nicht nur im Zirkus. Er hat Wurzeln im antiken Theater und hat in jüngster Zeit im Fernsehen die Gestalt eines Literaturclowns angenommen, der, von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, Bücher oder Gedichte, die ihm unliebsam erscheinen, mit explosivem Blitzschlag in Nichts zergehen läßt. Weiß als das Gewand einer vernichtungsversessenen Allmachtsattitüde – das ist etwas Neues, und natürlich, in Braun konnte dieser Komödiant nicht gut auftreten und in Rot auch nicht. Schwarz hätte den Anschein von Seriosität erweckt – ihm blieb nur die Nichtfarbe des Weißclowns. Dieser blitzschleudernde Hochstapler der Kritik tarnte sich, indem er seine Verpuffungsattitüde auch gegen ein Buch wandte, das sich, mit unbeschreiblichem Aufwand, vor geraumer Zeit bereits selbst vernichtet hatte, und er war albern genug, seine Scheinmacht an einem lyrischen Nachruf auszulassen, der eine tiefempfundene Albernheit war. Das waren Tarnmanöver, denn eigentlich ging es ihm um ein Buch, das sich vor vierzig Jahren im Blick auf eine ausweglos scheinende Situation mit subtilen Mitteln gegen die in der Welt vordringende Gewalt des Nichtenden und Vernichtenden gewandt hatte. Wo die Anwälte des Seins Anstalten treffen, dem fortschreitenden Nichts den Rang streitig zu machen, legt Mephisto Hahnenfeder und Pferdefuß beiseite und wirft sich das weiße Narrenkleid über, um mit blitzender Verpuffungsmacht einzuschreiten.
Wie aber fügt sich Strawaldes Weißmalerei in diese Verhältnisse ein? Sie stammt als ein Silvesterbild von Ende Dezember 2017 und heißt Sonnenflecken – wie das? Den Namen einer Erscheinung tosender Materie, kraterförmig verdunkelnder Störung im glühendflüssigen Fusionsbrei an der Quelle jener Lichtgewalt, deren Dämpfung durch einen 150 Millionen Kilometer weiten Abstand uns erst die Möglichkeit der Existenz gibt – diesen Namen für eine Bildfläche von zart modellierter Weißheit, die anmutet, als sähen wir von oben auf die Skizze eines Städtebauers, dem der Bleistift entfallen war, so daß er Häuser, Parks und Avenuen weiß in weiß einzeichnen mußte? Oder ist es der Blick aus großer Höhe auf einen in gleißendem Sonnenlicht liegenden Sandstrand, in dem Feriengäste verwehte Spuren hinterlassen haben? Das Feingestuft-Helle mit dem Titel einer Art Hautunreinheit auf der Oberfläche brodelnder Explosivität? Ich muß zum Hörer greifen, der Meister selbst soll mich aufklären! Aber er meldet sich nicht; wir bleiben an uns selbst gewiesen. Haben wir es wohl gar mit einem Schabernack zu tun? Dann haben wir ein Anrecht auf ein weiteres Sonnenfleckenblatt.
Friedrich Dieckmann
1 Johann Wolfgang von Goethe, Beiträge zur Optik, Erstes Stück (1791), § 93, in: Nachgelassene Werke, Bd. 18, Stuttgart und Tübingen 1842, S. 305.
2 Christian Morgenstern, Der Meilenstein, in: Ders., Alle Galgenlieder. Mit Vignetten von Horst Hussel, Leipzig 1981, S. 179.
In der Ausstellung:
Strawalde
Sonnenflecken 31.12.2017/1.1.2018, 2017/2018
Öl auf Leinwand
160 x 120 cm
Courtesy of the artist
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