Lucio Fontana

Das Museum ist eine konventionelle Einrichtung. Ebenso konventionell ist die Gepflogenheit, bei Ausstellungseröffnungen einführende Vorträge zu halten. Wir wollen unsere Kraft nicht damit vergeuden, einen plötzlichen Wandel dieser ehrwürdigen Tradition herbeizuführen; wir sehen wichtigere und vordringlichere Aufgaben. Immerhin möchte ich annehmen, dass es wirkungsvoll wäre, Stunden der Versenkung, einen Tag, eine Nacht vor Bildern Fontanas zu verbringen, gelöst, konzentriert, allein – wirkungsvoller als eine Interpretation, die die Barriere zwischen Sprache und Phänomen nie überwindet. Hoffen wir, dass die Zukunft hier weniger umständlich verfährt – für heute versuchen wir es noch einmal mit der Sprache. Ich spreche nicht für eine Gruppe, eine Organisation, Partei, Interessengemeinschaft: Ich spreche in meinem eigenen Namen, subjektiv, nach Können und Vermögen.

Diese erste umfassende Ausstellung der Arbeiten Fontanas aus drei Jahrzehnten betrachte ich als verpflichtenden Impuls zu einer geistigen Inventur, als Anlass, unsere praktische, geistige, künstlerische Situation zu erkennen und die Konsequenzen daraus zu ziehen. […]

Lucio Fontanas Durchstoßen der Leinwand mit dem Stilett und dem Messer reißt den Vorhang von Vorurteilen auf, der uns glauben machen will, die Welt müsse notwendig so sein und so bleiben, wie sie ist. Hinter Fontanas Leinwand, durch sie hindurch, öffnet sich der Raum.

Ist hier nur der illusionistische Raum durch den Realraum erweitert oder ersetzt? Der Realraum bedingt als Steigerung des gemalten Raums, als Erweiterung des Bildraums, der hier zugleich real und irreal ist, das Erscheinen des imaginären Raums. Dieser erhält durch die zweifache Fundierung ebenfalls doppelte Suggestivkraft: Die Imagination ergreift den Körper (Körpergefühl, Balance) des Betrachters mit der Einbildungskraft zugleich und lässt so den Wandel der Welt plötzlich und schmerzhaft und als Kontinuum zugleich spürbar werden. Die Bilder Fontanas sind aggressiv und gelassen, stark und schön, revolutionär und klassisch in einem. Sie künden eine neue Realität, indem sie die alte durchschneiden. Als Aktion verstanden, ist Fontanas Malerei Tyrannenmord, als zuständliche Gebilde (Resultat) pulsieren seine Bilder den neuen Raum, Fontana ist der „ambasciatore dello spazio“. […]

Die Kunst ist ein sensibler Bestandteil des Lebens, exemplarischer Ausdruck des elementar Gegenwärtigen, gemünzt in knappe Form, zugleich und vor allem die Zukunft kündend und formend, stetig Wandel begreifend und schaffend. Lucio Fontana zerstört in einem spontanen, schöpferisch radikalen Akt die Welt der alten Bilder und Vorstellungen und damit symbolisch die alte Welt der erstarrten, aus Müdigkeit, Einfallslosigkeit oder List praktizierten Gewohnheiten. Er schneidet ins Fleisch der verblödeten Zweibeinigkeit. Seine furchtlose Tat lässt im Durchlöchern der morschen Wunder ein neues erscheinen: Wir erleben im Versinken des Alten die Erscheinung neuer Möglichkeiten:
lo spazio.

Otto Piene, Einführungsrede zur Ausstellung „Lucio Fontana. Werke aus drei Jahrzehnten“, Städtisches Museum Leverkusen/Schloss Morsbroich [12.01.1962], zit. nach: Dirk Pörschmann, Margriet Schavemaker (Hg.), ZERO (Ausst.-Kat. Stedelijk Museum, Amsterdam / Martin-Gropius-Bau, Berlin), Köln 2015, S. 302

 

In der Ausstellung:

Lucio Fontana
Eventuale bozzetto per murale, 1959
Weiße Grundierungsfarbe auf Leinwand
26 × 14,5 cm
Privatsammlung Düsseldorf

Lucio Fontana
Concetto Spaziale, 1959/60
Öl auf Leinwand 
80 × 100 cm
Kunstpalast, Düsseldorf