Raimund Girke

Weißmaler der ersten Stunde

Die Werke von Raimund Girke vermitteln auf den ersten Blick einen homogenen Eindruck. Bei einem tieferen Blick auf die Schaffensperioden von rund fünf Jahrzehnten offenbaren sich jedoch einzelne Werkphasen, die sich voneinander abgrenzen, aber auch aufeinander beziehen. Die Homogenität seines Œuvres ist auf eine kontinuierliche und konsequente künstlerische Entwicklung zurückzuführen, in deren Kern die Farbe Weiß und damit verbunden die Stille und das Schweigen stehen.1 Seine Reduktion auf diese Farbe ermöglicht es Girke, ihr reiches Spektrum an Rhythmisierung, Struktur und Oberflächenmodulierung ebenso wie ihre Kontrastvielfalt in Korrelation zu anderen Farben herauszuarbeiten. Girke dringt radikal mit seinen monochromen Bildern bis zum Punkt des Nichtsichtbaren und zur Entgrenzung vor – eine Provokation, damals wie heute, die er mit Zeitgenossen wie Yves Klein oder Antonio Calderara teilt. Yves Klein war für Girke und viele andere einer der Impulsgeber für die Auseinandersetzung mit der Monochromie.2

„Farbe als Materie, die greifbar und sichtbar ist. Farbe nicht als Hinweis auf etwas, sondern als Vorhandenes. Farbe, die in Nuancen sich verändert und zu erfahren ist im kaum Sichtbaren, im gerade noch Tastbaren. Farbe als etwas Ruhendes und Schweigendes.“3

Die Bedeutung der Farbe Weiß ist für den Maler Girke nicht ikonografisch, politisch oder religiös aufgeladen. Seine Bilder abstrahieren nichts, bilden nichts ab und behandeln keine philosophischen Fragestellungen, vielmehr ermöglichen sie ihm, mit der höchstmöglichen Klarheit und Zurückhaltung zu arbeiten. Sie sind selbständige Kunstwerke und eröffnen beim Betrachten eine ästhetische Erfahrung, die nur auf individueller Wahrnehmung beruht. Nicht Einengung und Starre sind das Ziel, sondern Weite, Freiheit und Beweglichkeit.4

Der Maler entwickelt seine bildlichen Formulierungen in der künstlerischen Atmosphäre der 1950er-Jahre, geprägt von der Auseinandersetzung mit dem und der Ablösung vom vorherrschenden Informel. Ab 1956 befreit Girke sich mit seinen durchstrukturierten Bildern von den traditionellen Bildkompositionen seiner Vorbilder und entwickelt, den naturgegebenen Grenzen des Tafelbildes folgend, eine eigenständige und stark reduzierte Malerei. Das Weiß entzieht den Strukturbildern (ab 1959) und den Horizontalbildern (ab 1963) jede Festlegung und nimmt ihnen ihren materiellen Zustand. Girkes individueller Ansatz besteht in einer egalitären Gliederung seiner Bildflächen, die er mit rhythmisierten Pinselstrichen oder Spachteln in ruhiger, nicht enden wollender Bewegung bearbeitet und strukturiert. Sein Farbspektrum reicht über fast fünf Jahrzehnte hindurch neben dem Weiß auf Weiß über Abstufungen von Grau bis hin zu schwarz-weißen Kontrasten. Bei den frühen Düsseldorfer Bildern befinden sich noch erdfarbene Grundierungen unter der hellen Oberfläche – sie werden jedoch nach Ende der 1950er-Jahre vollständig vom Weiß verdrängt. Auch die Strukturen ändern sich entscheidend in diesen Jahren: Während die frühen Bilder noch unter dem Einfluss des gestischen Malens mit Pinsel und Spachtel stehen, folgen Anfang der 1960er-Jahre feine Farbgitter, die über Weißflächen, teilweise mit Spritzpistole aufgetragen, zu gemalten horizontalen Anordnungen führen. In den 1970er-Jahren kehrt Raimund Girke wieder zurück zu sehr malerischen Bildformulierungen mit gestischem Duktus – sie gehören zu seiner radikalsten Werkphase monochromer Malerei mit in sich gefangenen Farbstrukturen wie beispielsweise bei Monochromes Farbfeld (1976). Im Spätwerk ab den 1980er-Jahren öffnet er seine Malerei wiederum einem Farbspektrum zwischen Weiß, Grau und anderen Farbtönen, und, wie bei dynamisch (Schichtung) (1991) zu sehen ist, wird auch der Pinselduktus zu diesem Zeitpunkt wieder expressiver.

Anke Hervol

 

1 Vgl. Gottfried Böhm, Im Grenzbereich. Der Maler Raimund Girke, in: Raimund Girke. 1956/86, Ausst.-Kat., Berlin 1986, o. S.
2 Vgl. John A. Thwaites, Monochromanie, in: Deutsche Zeitung (o. A., 1960), zit. nach: John Anthony Thwaites, Der doppelte Maßstab. Kunstkritik 1955–1966, Frankfurt am Main 1967, S. 24 ff.
3 Raimund Girke, (Farbe als Materie …), in: Raimund Girke (Ausst.-Kat.), Münster 1974, S. 4.
4 Raimund Girke, in: William E. Simmat (Hg.), Galerie d zeigt: Europäische Avantgarde (Ausst.-Kat.), Frankfurt am Main 1963, o. S.

 

In der Ausstellung:

Raimund Girke
ruhig bewegt, 1963
Gemälde auf textilem Bildträger
155 x 106 cm
Kolumba, Köln

Raimund Girke
Rhythmisch, 1999
Öl auf Leinwand
200 × 220 cm
Klassik Stiftung Weimar, Museen, Dauerleihgabe aus Sammlung Karin Girke

 

Weiterführende Informationen zum Künstler