Mark Tobey

In seiner Bildfolge der White Writings schafft Mark Tobey rhizomatisch-labyrinthische Verstrickungen aus repetitiven, weißen Pinselschwüngen auf dunklen Hintergründen. Seine Malerei wiederholt das Einsetzen und Finalisieren von gemalten, an Kalligrafie erinnernden Strichen, die sich zu dichten Ge-Schichten fügen. Ausgehend von Fragmenten der sichtbaren Realität, wie die Stadtlandschaft New York Citys, Flussmeandern und Blattadern, verdichtet der Künstler die gemalte Spur zu vibrierenden Liniengeweben, die ein all-over erzeugen. In einem buddhistischen Kloster in der Nähe von Kyoto studierte Tobey 1934 traditionelle asiatische Kalligrafie, Zen-Philosophie, Meditation, Haiku-Dichtung und malte 1935 mit Broadway das erste Werk seiner ikonischen Reihe der White Writings. Sie übersetzen das in der chinesischen Literatenmalerei angestrebte fei bai (fliegendes Weiß) in die vom europäischen Surrealismus und der écriture automatique geprägte Malerei der New York School und des Abstrakten Expressionismus in den USA der 1940er-Jahre und beeinflussten insbesondere das Werk von Jackson Pollock maßgeblich. Tobey versuchte eine Balance zwischen seinen von japanischer und chinesischer Kalligrafie inspirierten Strichgefügen und der abendländischen malerischen Bearbeitung von Räumen und Volumen zu finden und löste letztlich den illusionistischen Raum zugunsten des „inneren Raums“ auf: „Die Dimension, die für den Schaffenden zählt, ist der Raum, den er sich selbst schafft. Dieser innere Raum ist dem Unendlichen näher als der andere, und es ist das Privileg eines ausgeglichenen Geistes […], sich des inneren Raums so bewußt zu werden, wie er sich des äußeren bewußt ist.“1

Ulrike Pennewitz

 

1 Mark Tobey, zit. nach: Jean-Christophe Ammann, Mark Tobey, in: Das Werk: Architektur und Kunst, Jg. 53, Heft 12 (1966), S. 498.

 

In der Ausstellung:

Mark Tobey
Ohne Titel, 1960
Bleistift auf Papier
60,3 × 45,7 cm
Sammlung Karin und Uwe Hollweg Stiftung, Bremen

 

Mark Tobey
Composition Perpendicular, 1958
Bleistift auf Papier
70,5 × 31,5 cm
Sammlung Karin und Uwe Hollweg Stiftung, Bremen