Harald Klingelhöller

Der Minimalismus hat zwar die Skulptur auf ästhetische Grundfiguren reduziert, dafür wurden aber die am Objekt gelöschte Symbolik in Form von sprachlichen Diskursen der Skulptur wieder eingeschrieben. Dieses Paradox macht Harald Klingelhöller zum künstlerischen Thema. Er versieht seine als minimalistisch lesbaren Skulpturen mit metaphorisch-plastischen Titeln und erweitert Materialität, Textur und Form entlang einer variablen Grenze in den Raum des Immateriellen und Gedanklichen. „Ich denke an eine Qualität von Raum, bei der die Erfahrung des physischen Raumes genauso weitergeführt wird wie die Erfahrung von Sprache“1, sagt Klingelhöller über seine Skulpturen. Die Titel-Phrasen eröffnen zwischen Skulptur und Raum eine zweite Sphäre, in der sich sowohl körperlich als auch gedanklich bewegt werden kann. Mit Strassen nach dem Regen erzählt, Schrankversion, wird diese zweite Ebene ganz wörtlich begreifbar. Die Skulptur hat zwei Ansichten: eine helle, glatte mit aufgesetzten geometrischen Stäben und rechteckigen Vertiefungen sowie eine Ansicht, die als ihre Negativform verstanden werden kann. Raue Oberflächen und Stege, die als Stützen der Wandelemente dienen, rekurrieren auf den Prozess des handwerklichen Machens und der Konstruktion. Klingelhöllers Skulptur verweist auf die in der Phänomenologie beschriebenen Prinzipien des perspektivischen Sehens, bei dem nichtansichtige, abgeschattete Seiten eines Gegenstands auf der Grundlage von Erfahrungen mitgemeint werden. Die durch Umschreiten der Skulptur entdeckbare Unterschiedlichkeit einer vermeintlichen Vorder- und Rückseite offenbart den Wahrnehmungsvorgang als einen Denk- und Bewusstseinsprozess. So wie die Horizontalen von Straßen in der regennassen Oberfläche durch Spiegelung in das Feld des Imaginären verlängert werden.

Ulrike Pennewitz

 

1 Hans Rudolf Reust, Mischgrenzen. Ein Polylog um Skulpturen von Harald Klingelhöller, in: Kunstforum International, Nr. 139 (1997), S. 288–300.

 

In der Ausstellung:

Harald Klingelhöller
Straßen nach dem Regen erzählt, Schrankversion, 2011
Gips, Metall
241 × 121,5 × 99,5 cm
Courtesy of the artist